über
die freien Schwingungen Prof. Josef Gantner, Kunsthistoriker, Basel Der Kunstfreund, der die Werke von Jürg Da Vaz aufmerksam studiert, wird durch sie unweigerlich auf ein Phänomen hingewiesen, welches zu den unverwechselbaren Eigentümlichkeiten des 20. Jahrhunderts gehört: die Formen der abstrakten, d.h. von aller gegenständlichen Assoziation losgelösten Kunst. Der Grundcharakter seiner Werke ist eindeutig abstrakt, d.h. er resultiert aus dem Spiel der Phantasie, aus der Konzentration auf diesen keinem Objekt verpflichteten schöpferischen Vorgang. Nicht um die Darstellung irgend eines in der Welt existierenden oder vom Künstler mit den Mitteln dieser Welt erdichteten Gegenstandes handelt es sich, sondern um das freie Schweifen der künstlerischen Einbildungskraft in den nur ihr eigenen Bezirken. Dieser Vorgang, der um etwa 1910 in der Kunst sichtbar wurde, der zweifellos auch mitbestimmend war für die "dekorativen" Partien der damals neuen Architektur, der weiterhin nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika und Asien begeisterte Anhänger fand, hat wie jeder grosse Vorgang in der Geschichte des Geistes, seine Wurzeln ganz tief in der Vergangenheit. Der Historiker fühlt sich sogleich an Leonardo da Vinci erinnert, der in seinen Aufzeichnungen gelegentlich davon spricht, dass unser Auge dort, wo es ungehindert von der Realität frei schweifen kann, nämlich im Traume, die Dinge dieser Welt richtiger sehe als im wachen Zustand. Er hört aber auch vor allem über mehr als ein Jahrhundert hin die Stimme Hegels ertönen mit der entscheidenden Aussage: "der ganze Inhalt der Kunst" konzentriere sich auf "die Innerlichkeit des Geistes, auf die Empfindung, die Vorstellung, das Gemüt". In der Moderne ist der Grundgedanke am unmittelbarsten von den Surrealisten ausgesprochen worden. Was André Breton 1924 im "Manifest des Surrealismus" verlangte - ein "fonctionnement réel de la pensée, en l`absence de tout contrôle exercé par la raison, en dehors de toute préoccupation esthétique ou morale" - das gilt mit leichten Variationen ebenso von der abstrakten Kunst, die in der zeitlichen Abfolge der "Stile" unmittelbar auf den Surrealismus gefolgt ist. In einer Ansprache bei Anlass einer Ausstellung der Arbeiten von Da Vaz in der Galerie Stampa in Basel im Jahre 1969 hat Adolf Portmann kürzlich auf das enorme Interesse hingewiesen, das von den Naturwissenschaften diesem Vorgang der Abstrahierung entgegengebracht wird. Dabei handelt es sich weniger um die ja oft besprochene Verwandtschaft der Formen, die im Mikroskop sichtbar werden, als vielmehr um den geistigen Vorgang - auch die Naturwissenschaften versucht, auf ihrem Wege, den Dingen "auf den Grund zu kommen" und stösst dabei auf Gebilde, die von den Objekten ihrer Untersuchung mehr und mehr abstrahiert sind. Und auch bei ihr handelt es sich um das Resultat eines langen historischen Prozesses, der nun im 20. Jahrhundert zu seinen alles durchdringenden Auswirkungen gekommen ist. Gerade dieser Vergleich aber unterstreicht die enorme Wichtigkeit der persönlichen Aussage des Künstlers, so wie sie in den Arbeiten von Da Vaz vor uns liegt. Die naturwissenschaftliche Analyse im Mikroskop kann nicht anders als unpersönlich sein; die künstlerische Gestaltung aus der reinen Phantasie aber kann nur persönlich sein, so wie es Da Vaz selber ausgesprochen hat. Diese Gebilde, die da vor uns erscheinen, leben einzig und allein dank der künstlerischen Einbildungskraft dessen, der sie geschaffen hat, und je stärker ihre Darstellung, umso überzeugender die Gültigkeit ihrer Aussage auch für Andere. Dass im Laufe der Arbeit sich eine Art Eigengesetzlichkeit ausbildet, wie Da Vaz sagt, unterstreicht nur die Wichtigkeit dieser durch nichts Anderes zu ersetzenden Arbeit der Phantasie.
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