"Man
kann keinen Sprung machen Roy Oppenheim, Kunsthistoriker, Bern "Man kann keinen Sprung machen und sich dabei beobachten", schreibt Jürg Da Vaz in seinem 1978 in Washington entstandenen Buch "Psychospheres". So ist es: das Schwierigste ist es, uns selber zu beobachten, ein Bild unserer Selbst zu fabrizieren. Daher braucht es offensichtlich Beobachter, die uns kritisch ins Blickfeld nehmen. Heute kommt uns allen die Aufgabe zu, die Aufgabe der Interpretation zu übernehmen. Wenn ich nochmals eine Textstelle von Jürg Da Vaz zitiere, dann deshalb, weil seine eigenen, präzisen Gedanken uns mitten ins Zentrum seines Schaffens führen: "Die Leute rieten mir, eine Kunstschule zu besuchen, um die Grundtechnik des Malens zu lernen. Ich sagte nein. Ich konnte es nicht über mich bringen, dies zu tun. Für mich gab es keine sogenannte Grundtechnik. Glücklicherweise wusste ich dies gleich zu Beginn. ... Es ist nicht eine Frage der Technik, sondern vielmehr eine Frage, wie Bewegung entsteht. Die Technik entwickelt sich gleichzeitig mit dem kreativen Prozess. Für mich besteht sie (die Technik) nicht zuvor und hat keine unabhängige Bedeutung. Noch immer durchlaufe ich das gleiche Drama des kreativen Sprunges, wenn ich vor einer leeren Leinwand oder einem weissen Blatt Papier sitze. Ich greife zur Feder und beginne, ohne zu wissen, was ich zeichnen werde. Ein Künstler und Freund erzählte einmal, dass einige seiner besten Zeichnungen im Dunkeln entstanden seien. Er hatte sich absichtlich in einen dunkeln Raum eingeschlossen, um sich im schöpferischen Vorgang nicht mit seiner eigenen Betrachtung zu unterbrechen. Ich schaffe blind, auch ohne dunkeln Raum. ...Es ist als ob eine ständige fliessende Quelle von Energie in mir ihren Ausgang einzig und allein durch die perfekte Kontrolle meiner Hand finden könne. Und eben die Beherrschung dieser Spannung ist es, die meine Arbeit für mich so faszinierend und interessant macht. Ich zeichne aus dem Moment heraus. Wenn ich an einer Zeichnung während vier oder fünf Monaten arbeite, erscheint dieser Moment oft wie eine Ewigkeit. Doch schliesslich läuft der Impuls aus. Ich zeichne die letzte Linie. Der ganze schöpferische Vorgang, der in mir stattfand, verwandelt sich in eine anschaubare Ganzheit. Sie liegt vor mir und man kann sie betrachten. Dieses Ende ist wie ein Aufschwung." Betrachten wir diese Ganzheit gemeinsam.Es gibt ein Schlüsselwort im Schaffen von Da Vaz: BEWEGUNG Vielleicht war es Ostasien, das hier seinen geistigen Einfluss, v.a. der Zen-Maler, ausübte: In Asien ist von zentraler Bedeutung, dass alles in Bewegung ist, dass "die festen Formen" aufgelöst und durchscheinend gemacht werden müssen, um so den Raum durch die "bewegte Linie" spürbar zu machen. Die raum-zeitliche BewegungFür Da Vaz bedeutet die Kunst, das Leben Bewegung. Omnia fluunt, panta rei. Wie beim Philosophen Bergson liegt für ihn Wesen und Wunder der Existenz in der Bewegung, die als ewige "Genesis" und Verwandlung sich manifestiert. Die Darstellung der Bewegung im Ablauf des Zeitlichen ist überhaupt ein allgemeines Thema der modernen Kunst geworden.: Zunächst als raum-zeitliche Umkreisung der "objets" bei den Kubisten, als Dynamismus des Mechanischen und Emotionalen bei den Futuristen oder als Metamorphose des Figuralen und Landschaftlichen bei den Surrealisten. Bei Da Vaz wird dieses Phänomen der raumzeitlichen Bewegtheit zu einem zentralen Element: zunächst als physische Bewegung, als Motorik des Zeichnens, des spontanen und direkten Schöpfens aus sich heraus - dieses einmalige, faszinierende Entfalten-Lassen von Formen, Figuren, von tanzenden, wandernden, laufenden, schwebenden, schwimmenden und fliegenden Formen, Bändern, geometrischen Signalen, Zeichen. In immer neuen, überraschenden Variationen. Viele seiner Bilder sind mehrere Meter lang. Da und dort glauben wir räumliche Wirkungen zu spüren und sofort schlägt das Muster um in neue Dimensionen, vielleicht wird hier die Grenze zur vierten und fünften Dimension angedeutet, assoziiert. Irgendwie erinnert uns dieses vulkanische, eruptive Hervorbringen neuer Formen und Bewegungen, dieser raumzeitlichen Wesenheiten an den künstlerischen, schöpferischen Prozess in seiner ursprünglichsten Form. Wie sagte doch Wilhelm Lehmbruck: "Ein jedes Kunstwerk muss etwas von den ersten Schöpfungstagen haben, vom Erdgeruch, man könnte sagen: etwas Animalisches." Die befreite LinieDas Elementarmittel, mit dem Da Vaz arbeitet, ist neben der Farbe vor allem die Linie. Diese ist, wie wir wissen, das primäre Ausdrucksmittel des Menschen überhaupt. Ritzzeichnungen aus der Prähistorie deuten auf das individuelle Gestalten über das Imitative hinaus. Zeichen gehören zum ältesten Mittel des Menschen, etwas aus dem Chaos der Erscheinungsvielfalt zu lösen und zu abstrahieren. Odilon Redon, der französische Graphiker und Maler, sprach von "Wirkungen der abstrakten Linie, welche direkt auf den Geist einwirken" ("les effets de la ligne abstraite agissant directement sur l'esprit"). Die Musik mit ihren Notenlinien und Notenzeichen ist ja eine solch abstrakte Schrift, eine besondere Art der "suggestiven Kunst". Schrift. Ein Stichwort. Auch Da Vaz bedient sich in vielen Zeichnungen und Bildern einer Art der Schrift, die verschlüsselt Ausdruck von bestimmten Botschaften sein mag. Wir haben eingangs von Bewegung als zentralem Element gesprochen. Diejenige Kunst, welche das Bewegte von der Wurzel her nachzubilden vermag, ist die Zeichnung. Die Zeichnung treibt die Abstraktion von der konkreten Wirklichkeit am weitesten und ist in ihren Mitteln am beschränktesten. Gerade darin erfliessen ihr neue Quellen der Verkörperung - durch die Konzentration sozusagen. "Zeichnung vermag Bewegung nahe an ihrem Prinzip und Ursprung erfassen, da, wo die Bewegung potentiell, eine blosse Kraft ist" (Erich Brock). Die verborgene und doch konkrete Energiegeladenheit der Linie, die Entfaltungsmöglichkeit ihres Kräftespiels, die Raumtiefe ... All das sind Elemente Bewegung in die Fläche hinein und aus ihr hervor. Da Vaz versteht dieses Spiel mit unterschiedlichen Bewegungen und Räumen meisterhaft. Er lässt seine Linien - Krümmungen, Winkel, Spannungen und Biegungen - Wege beschreiben, drahtartige Luftschleifen vollziehen, so dass dieser raumzeitliche Vorgang vom Betrachter als Bewegung empfunden, sein Rhytmus und freies Spiel dynamisch nacherlebt werden. Die Linien laufen, springen, überschlagen sich und hinterlassen auf ihren eigenwilligen Wegen bald streng geometrische Spuren, bald freie Zeichen, die an Wachstumskurven, an eigenartige Pflanzen, an Gesteinsschichten, an auf- und zugehende Blüten erinnern. Die aus dem Unendlichen kommenden bewegten Linien gestatten uns sozusagen hic et nunc einen Blick in eine eigene Welt mit ihren eigenen Gesetzmässigkeiten; und dann entschwinden die Linien wieder in weite Ferne. Ein Faden der Ariadne, der uns aus einem geheimnisvollen Labyrinth herausführt, uns aber auch wieder dazu verführt, uns dem Spiel der Formen und Bewegungen, der Farben hinzugeben. Viele DimensionenFast könnte man sagen, die Bilder von Da Vaz müssen nicht erschaut, sondern erlesen werden. Bei jedem neuen Betrachten muss und soll sich das Auge anders einstellen: eine Art "moving focus" könnte man sagen. D.h. die Aufforderung des Künstlers an den Betrachter, die verschiedenen Raumzellen von verschiedenen Standpunkten aus zu erleben. Je länger wir die Bilder betrachten, je öfter wir ihnen - vielleicht auch nach längeren Pausen - begegnen, desto vielfältiger werden die Sichtweisen, die Tiefendimensionen. Kunst ist eben mehrdimensional. Die Werke enthalten zudem eine einmalige Dynamik: die Linien, aber auch die Farbgebung verlaufen nicht mehr parallel zur Bildfläche, sondern stossen mehr oder weniger in eines der Raumkompartimente, die das Gesamtwerk ausmachen. Er schafft eine suggestive Zeichensprache, etwas Neues, etwas Kreatürliches, was auf eine ganz besondere Art "lebendig" wird. Seine Werke erinnern an die wunderbare griechische Sagengestalt Pygmalion: der König von Kypros verliebte sich in eine von ihm selbst geschaffene weibliche Statue; sie wurde dann von Aphrodite zum Leben erweckt und Pygmalion nahm sie zur Gemahlin.... Nur der Künstler ist in der Lage, Werken Leben einzuhauchen, zu "inspirieren". Da Vaz gehört zu solchen, die dank ihrer suggestiven Gestaltungskraft Werke gestalten, die uns gefangen nehmen. Kunst und Natur Seine Bewegungen-Bilder haben auch etwas zu tun mit biologischer Entwicklung: als Lebensprozess nach vorwärts - progressiv in die Zukunft, oder nach rückwärts, regressiv in das Nichts, in den Tod. Seine barocken Entfaltungen erinnern an das Oeffnen einer Blüte, das keimhafte Aufblättern, als Symbol vegetativen Wachstums. Stirb und Werde - Sich - Verwandeln, aus einem uns unsichtbaren Urkern, aus einem vor Lichtjahren explodierten Urknall, einer verborgenen Galaxie .... Aus dem Chaos zum geordneten, strukturierten Kosmos. Zu-Fälle könnte man vielleicht auch sagen: Zu-Gefallenes, aus der Unendlichkeit des gestirnten Himmels, in dem die Geheimnisse unserer Existenz verborgen sind. Da Vaz ist ein Sucher, ein Experimentator, ein Herausforderer des kreativen Geistes. Sein Schaffen hat etwas von einem Abenteurer, der die Reise ins Ungewisse, Unbekannte wagt. "Die Kunst ist ein Abenteuer ", schrieb einst Ortega y Gasset. Er schrieb in seinem grossartigen Essay "Signal unserer Zeit": ".....Ich glaube, der Sinn für Kunst ist uns verlorengegangen, weil sie allzu häufig und billig geworden ist. Wieviel reizender ist es, sie als ein Abenteuer anzusehen, das ab und zu - sehr selten im Grunde - wie ein Blitz aus heiterem Himmel niederfährt. Wir leben so dahin, unseren Geschäften nachgehend, auf einmal packt uns etwas, wirft uns aus unserem täglichen Selbst und reisst uns fort wie der göttliche Wirbelwind die Propheten in eine jenseitige Welt. Kunst ist nicht denkbar ohne Ekstase, was wörtlich Ausser-sich-sein heisst." Die Sphäre der VergeistigungDa Vaz ist eine Naturbegabung in dem Sinn, dass er seit Jahren mit Konsequenz und Vitalität immer wieder das Anfängliche, Unverbrauchte, Direkte des Ausdrucks sucht und eine neue konstruktive Bildwelt erschafft. Die Bewegung, haben wir festgestellt, ist bei ihm ein zentrales Element. Da aber Bewegung immer auch Veränderung, Prozess einschliesst - also Antithese zum Statischen - ist, braucht es noch eine weitere Dimension, um das Ganze nicht einfach auf Oberflächliches, Transitorischem zu reduzieren. Es ist dies eine zusätzliche geistige Ebene. Für Da Vaz existieren seine "Psychospheres" unabhängig von der realen Welt. Hegel kommt uns in den Sinn, der erstmals, so glaube ich, den Begriff der "Innerlichkeit des Geistes" prägte:"Der ganze Inhalt der Kunst konzentriert sich auf die Innerlichkeit des Geistes, die Vorstellung, das Gemüt". In dieser geistigen Welt findet Da Vaz auch Freiheit und Unabhängigkeit. Diese Bilder atmen denn auch den Geist einer persönlichen "Grandezza", den Duft der Weite. Vielleicht hat hier das USA-Erlebnis den Künstler beeinflusst. Vico Giambattista, ein kühner Antipode Descartes, prägte den Ausdruck "phantasieentsprungenes Denken", eine Art poetische Urzelle des Geistigen im Ursprünglichen. Das Irrationale, das unserem rationalen Denken Entzogene, steht im Zentrum dieses Schöpfungsaktes. Da Vaz entwickelt auseine Weise Neues von der Kernzelle des Schöpferischen her zu neuen Figuren, Gestaltungen. Wir wollen den Begriff der "psychischen Improvisation", wie er in der modernen Kunst besteht, nicht überstrapazieren. Dennoch beobachten wir bei Da Vaz eine Art der "psychischen Improvisation eigener Prägung": Ausgangspunkt ist das Feld der inneren Freiheit. Freiheit bedeutet Lösung von allen Vorurteilen, Zwängen, Festlegungen. Zeichnen und Malen werden als reine Aktion verstanden, choreographische Aufzeichnungen eines beinahe trancehaften, tänzerischen Sichbewegens auf der Bildfläche. Diese Choreographie gibt Auskunft über den Künstler und dessen Befindlichkeit. Der grosse Vorteil dieser "psychischen Improvisation" besteht darin, dass wir dem Künstler sehr direkt begegnen. Der Künstler ist sozusagen selber im Bilde, er ist Teil der Bildwirklichkeit. Dieses "Im-Bilde-Sein" erinnert mich an eine Legende aus China, genauer, aus einer Kaiser-Dynastie, in der die Kunst einen hohen Stellenwert hatte. Ein Künstler wurde zum Kaiser gebeten und erhielt den Auftrag, ein Bild der Welt zu malen. Dem Künstler wurde ein kleiner Palast zugewiesen, in dem der Maler ungestört seiner Arbeit nachgehen konnte. Ab und zu fragte der Kaiser nach, ob man denn schon mit ersten Ergebnissen rechnen könne. Die Antwort lautete immer die gleiche:" Ich bin noch an der Arbeit und brauche Zeit." Endlich - nach Jahren der Arbeit - liess der Künstler ausrichten, das Bild sei zu Ende gemalt und der Kaiser könne es betrachten. Die gesamte Hofstatt versammelte sich vor dem Riesengemälde; es stellte tatsächlich ein Bild des Kosmos dar. Der Kaiser wollte den Künstler beglückwünschen - doch dieser war plötzlich verschwunden. Da rief jemand:"Schaut, er ist da - er ist im Bild!" Tatsächlich: der Künstler befand sich in seinem eigenen Bild. Er ging langsam - auf einem kleinen Weg - in das Bild hinein, wurde immer kleiner und verschwand. Seither wurde er nie mehr gesehen. Soweit die chinesische Geschichte. Sie symbolisiert das Eingehen des Künstlers in seine eigene Bildwirklichkeit. Zum Schluss ein kurzes Gedicht von Laotse aus seinem "Tao-te-king" das, so meine ich, vortrefflich zum Schaffen von Jürg Da Vaz passt und den Bogen wieder zum Anfang unserer Betrachtung schliesst: zur Formulierung "Ich schaffe blind, auch ohne dunkeln Raum":
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