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Kunst und Evolution
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Kunst und Evolution

Dr. med. Ursula Davatz, Washington, D.C., USA

Die gegenständliche Kunst stellte für Jahrtausende eines der wichtigsten Kommunikationsmittel dar. Darstellungen von wichtigen Szenen aus dem menschlichen Leben haben Kulturen und ihre Träger überdauert und uns Knotenpunkte der menschlichen Geschichte überliefert. Diese bildhaften Uebermittlungen wurden im Laufe der Zeit Allgemeingut und damit zugänglich für jedermann.

Die abstrakte Kunst hingegen scheint sich dem Allgemeinverständnis entzogen zu haben. Es wird gemeinhin angenommen, dass jedermann einen Rembrandt oder Renoir verstehen kann, jedoch nur Fachleute die abstrakte Kunst begreifen können. Um das Verständnis für die abstrakte Kunst anzuregen, werden wir anstelle des fertigen Bildes den Werdegang etwas eingehender betrachten und auf diese Art den kreativen Prozess als solchen angehen.

Die Entwicklungsgeschichte, eine der eindrucksvollsten kreativen Vorgänge, kann uns neue Aspekte zum Verständnis der bildenden Künste liefern, indem sie uns einen allgemeinen Blickwinkel für Kreativität eröffnet. Der schöpferische Vorgang in der Kunst folgt Gesetzen, die denjenigen der biologischen Evolution vergleichbar sind.

Das Wort Evolution bedeutet fortlaufende Veränderung in einer gewissen Richtung. Was bringt jedoch diese Veränderung in Gang und wie erhält sie ihre Richtung? Wenn wir die Evolution auf ihre wichtigsten Mechanismen untersuchen, können wir zwei Phänomene beobachten: das Phänomen des Zufalls und das Phänomen der Ordnung.

Das Phänomen des Zufalls

Das Phänomen des Zufalls, das in der Variationsevolution vorkommt, kann illustriert werden anhand der Mutation, der sexuellen Rekombination und der zufälligen Genfixation während der Reproduktionsphase der Gameten. Es ist dieser sexuelle Reproduktionsvorgang, der die genetische Vielfalt erzeugt und damit die Möglichkeit zur Evolution erhöht. Die dabei stattfindende zufällige Kombination der verschiedenen biologischen Bausteine, der Gene und der Chromosomen führt zu einer grossen Anzahl von Variationen.

Da ein Zufallsvorgang laut Definition nicht wiederholt werden kann, ist sein wichtigstes Merkmal die Erzeugung einer Einmaligkeit. Es findet deshalb während jeder sexuellen Vermehrung ein Ablauf von verschiedenen Zufallsvorgängen statt, welche eine unerschöpfliche Quelle von Kombinationen liefern, die aus lauter einmaligen Vorgängen zusammengesetzt sind. Aus diesem Grunde sind zwei sexuell sich vermehrende Organismen und der aus ihnen entstehende neue Organismus genetisch gesehen niemals identisch.

Der neu entstandene Organismus kann in genetisch identischer Form kein zweites Mal kreiert werden. Dies stellt die genetische Basis für den Begriff der Individualität dar. Es ist diese Irreversibilität, welche die organische Evolution einzigartig, individuell und nicht wiederholbar macht.

Das Phänomen der Ordnung

Das Phänomen der Ordnung ist das andere Grundprinzip, das in der biologischen Entwicklung am Werke ist. Es stellt sich dar in der Adaption durch natürliche Auslese und Adaption durch Anpassung. Diese beiden Begriffe können auch zusammengefasst werden unter dem Begriff der "organisierten Evolution".

Adaption durch natürliche Auslese oder Ueberleben des Stärkeren ist ein äusserliches Ordnungsprinzip, welches über die Auslese innerhalb des Kollektivs abläuft. Die Richtung der Evolution wird dabei durch Umwelteinflüsse bestimmt, die nur die stärksten Mitglieder der Gruppe überleben lassen. Dabei wird die Häufigkeit gewisser Gene und gewisser Gen-Konstellationen bevorzugt und dadurch vermehrt, dass sie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort die Möglichkeit zum Ueberleben erhöhen.

Adaptation durch Anpassung an die Umwelt ist ein inneres Ordnungsprinzip. Es bezieht sich auf eine spezifische Anpassung des Organismus an seine Umwelt über einen inneren Reglerkreis, der allem Lebendigen eigen ist. Er ist nicht nur im makroskopischen Bereich, sondern auch im mikroskopisch-zellulären Bereich, ja wahrscheinlich sogar im genetischen Bereich tätig. Wenn auch dieser Mechanismus noch nicht in all seinen Einzelvorgängen bekannt ist, so weisen doch einige neueste Forschungsergebnisse deutlich darauf hin.

Der kreative Prozess in der Evolution ist somit weder ein reines Zufalls- noch ein absolut teleologisches, zielgerichtetes Phänomen. Er besteht vielmehr aus dem Zusammenspiel von Zufall und Regelung. Dies verbindet beide Vorgänge und führt damit zu stetigem Aufbau von Neuheiten. Es ist das Aufeinanderstossen von neu aufgebauten Strukturen und deren allmähliche Einspielung-auf die Umwelt, welche der Evolution ihre Richtung geben, die zu erhöhter Komplexität und Differenzierung der Lebewesen führt, ein Vorgang, der irreversibel und dadurch einmalig ist.

Frage: Welche Parallelen können von diesen beiden Vorgängen zur menschlichen Kreativität gezogen werden, vom Zufall, der Einmaligkeit bewirkt, und vom Ordnungsprinzip, das Struktur liefert?

Es ist die Einzigartigkeit oder Einmaligkeit, welche den schöpferischen Wert eines Kunstwerkes bestimmt und dadurch auch seine Ueberlebenschance. Alle Künstler, die ihre Zeit überdauert haben, kreierten ihren eigenen Stil oder ihr eigenes Thema. Diese Einmaligkeit wird meistens mit "Inspiration" in Zusammenhang gebracht: ein "glücklicher Zufall", der den Künstler überkommt, der Kuss der Muse. Am Begriff der Inspiration ist bemerkenswert, dass sie kein geplanter Vorgang ist, in der Tat niemals geplant werden kann. Inspiration tritt vielmehr immer unerwartet ein. Dies führt uns zurück zum Begriff der Zufälligkeit. Der Zufall ist ebenfalls ein Vorgang, der nicht geplant werden kann. Unserer Ansicht nach wird auch in der Kunst Einmaligkeit oder Einzigartigkeit über den Gebrauch des Zufalls erreicht. Indem wir kurz verschiedene Entwicklungsphasen in der Malerei durchgehen, werden wir versuchen, unseren Standpunkt zu veranschaulichen.

In allen frühen primitiven Kunstformen kam das Phänomen des Zufalls durch "Mangel an Technik" zum Ausdruck. Die künstlerische Technik war noch nicht verfeinert. Dies ermöglichte Spielraum für das Unvorhergesehene, den "glücklichen Zufall". Mit der Verfeinerung der Technik wurde dieser Spielraum verkleinert. Dadurch wurde der Künstler gezwungen, den Vorgang des Zufalls über andere Mittel wieder herbeizuführen, wie zum Beispiel durch die Darstellung von neuen Themen oder ungewöhnliche Kombinationen von Gegenständen. Da es aber nur eine beschränkte Anzahl von konkreten Themen gibt, die sich der menschliche Geist ausdenken kann und ebenso nur eine beschränkte Anzahl von Gegenständen in der reellen Welt, vom welchen der Künstler seine Auswahl treffen kann, war auch dieser Speilart, den Zufall zu verwenden, ein Ende gesetzt. Die Möglichkeit für neue Kombinationen wurde allmählich erschöpft.

Während der Uebergangsphase von der gegenständlichen zur abstrakten Kunst haben die Künstler artfremde Farben für Gegenstände verwendet oder verzerrte Perspektiven, um damit einen neuen schöpferischen Impuls für ihre Weke zu bekommen. Auch diese Methode erschöpfte sich allmählich. Schliesslich wurde der reelle Gegenstand gänzlich aufgelöst, was zur abstrakten Kunst führte.

Die Führung der Linie, die Wahl der Formen und der Farben waren nun ganz dem Zufall überlassen. Darauf wurde auch die Technik dem Zufall ausgesetzt. Beispiele dieser Methode sieht man im Auftragen der Farben auf die Leinwand mittels einer Spritzpistole, wodurch die willentliche Führung des Pinsels vermieden wird oder im Gebrauch von ungewöhnlich flüssiger Farbe, in ungewöhnlich schnellem Arbeiten, in der Arbeit im Dunkeln, kurz in der bewussten Trennung zwischen dem, was der Geist denkt und dem, was die Hand tut, sodass das Auge nicht folgen kann. Eine andere Methode ist die Einnahme von Drogen, welche die Kontrolle des Bewusstseins vermindern und damit seine vorgefassten Vorstellungen auslöschen. Alle diese Methoden ermöglichen den Zufall.

Nicht jeder Zufallsvorgang in der Kunst jedoch führt zu Neuheiten, gerade sowenig wie jede Mutation zu einem neuen evolutiven Vorgang führt. In der Kunst wie in der Evolution scheint zusätzlich noch ein anderes Prinzip am Werke zu sein, nämlich das ordnende Prinzip.

Wer kreativ tätig ist, kann nicht einfach auf die Inspiration warten, darauf, dass ihm der glückliche Zufall in den Schoss fällt, er muss in Aktion treten und eine dauernde Strukturierung zur Verfügung stellen, die Technik, in welche der Zufall eingegliedert werden kann. Wenn wir die Arbeit von berühmten Künstlern genauer betrachten, können wir sehen, dass ihre Werke nicht nur aus einem genialen Einfall bestehen, sondern auch aus sorgfältigster Kleinarbeit aufgebaut sind, was einem strukturierenden Vorgang entspricht. Erfolgreiche Künstler waren meist unermüdliche Arbeiter, die dauernd versuchten, ihre Technik zu verbessern, ohne je ganz zufrieden zu sein mit dem Ergebnis.

In der Kunst wie in der Evolution spielen sich grundsätzlich zwei Prozesse ab: das Prinzip des Zufalls dargestellt mit dem Begriff der Inspiration und das Ordnungsprinzip erfasst mit dem Begriff der Technik. Beide Vorgänge stossen dauernd aufeinander, und es ist eben dieses Zusammenspiel, das die Kreation bewirkt.

Wie oben erwähnt, kann der Prozess des Zufalls in der Technik wie auch im Thema verwendet werden. Ebenso kann das Ordnungsprinzip in der Technik wie im Thema liegen. Sobald jedoch die Struktur des realitätsgebundenen Gegenstandes aufgegeben ist, und die Technik ebenfalls dem Zufall ausgesetzt wird, hat der Künstler nur noch einen Zufallsvorgang und keine Struktur mehr zur Verfügung.

Dies genau ist der Punkt, an dem der grosse Teil der modernen Kunst immer noch steht. Viele originelle Ideen werden hervorgebracht, aber wenig kosequente Struktur ist erkennbar, wahrscheinlich ein Grund, weshalb moderne Kunst für manche Betrachter so unbefriedigend ist. Es gibt jedoch Ausnahmen. Einige wenige moderne Künstler, unter ihnen Jürg Da Vaz, haben das Ordnungsprinzip wieder neu in den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit gerückt. In ihren Werken kommt die Struktur jedoch nicht durch die exakte Darstellung eines Gegenstandes zum Ausdruck, sondern durch eine äusserst exakte Technik. Der Zufallsmoment dagegen wird ermöglicht über das Fehlen einer realitätsgebundenen Vorstellung, was einem freien Fluss von Linien , Formen und Farben Platz macht. Dies wiederum führt zu neuen Gebilden, abstrakten Konstruktionen, welche niemals im voraus hätten ausgedacht werden können. Dieser Vorgang eröffnet eine gänzlich neue Welt mit neuen unerschöpflichen Möglichkeiten, Perspektiven und Variationen.

Das Resultat von unzähligen Auseinandersetzungen zwischen unendlich vielen verschiedenen Vorgängen und Systemen.

Die Werke von Da Vaz sind Beispiele dieser neuen Konstruktionsart in der modernen Kunst. Wir können in seiner Arbeit eine hochentwickelte Technik feststellen, die nicht viel Zufälligkeit zulässt. Jede Linie ist mit Präzision gezogen. Dazu sagt er, dass er im Voraus keine Vorstellungen seines Bildes hat, welche die Linien und Formen daran hindern würden, sich selbst zu bestimmen. Von Anfang an entwickeln sich seine Bilder in einer organischen Weise, nicht linear, nicht von einem Ende zum anderen, sondern von mehreren Richtungen gleichzeitig. Jede sich entwickelnde Form oder Anhäufung von Formen ist in sich genau strukturiert. Sie wächst jedoch zufällig, ohne von einem übergeordneten Prinzip bestimmt zu werden. Die Konstruktion oder Gestalt wird sichtbar im Laufe der Entwicklung, wenn die verschiedenen Teile des Bildes aufeinanderstossen, sich überlappen, ineinanderwachsen, sich gegenseitig Grenzen setzen, und dabei einander sowie das ganze Bild in seinem Prozess bestimmen. Das Ergebnis sieht perfekt aus, als ob es auf`s genaueste geplant worden wäre, wenn dies in der Tat nicht der Fall ist.

Es ist schwierig zu begreifen, dass ein Vorgang, der so vollkommen aussieht wie die Evolution, nicht geplant wurde. Selbst zur heutigen Zeit, seit mehr als hundert Jahren seit Darwins Entdeckung der Grundprinzipien der Evolutionsgeschichte ist es für manche schwerverständlich, dass ein wundervoll funktionierendes Zusammenspiel im ökologischen System wie wir es in der Natur, der Tier- und Pflanzenwelt betrachten können, nicht von einer höheren Macht in jedem Schritt der Entwicklungauf`s sorgfältigste geplant wurde, sondern vielmehr das Resultat von unzähligen Auseinandersetzungen zwischen unendlich vielen verschiedenen Vorgängen und Systemen ist. Gerade diese Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Vorgängen ist es, die der Evolution eine scheinbar so sinnvolle Richtung gibt.

Das gleiche gilt für die Bilder von Da Vaz. Für manche Betrachter ist es schwierig zu akzeptieren, dass er seine Bilder nicht im voraus geplant hat. Er wird deshalb oft gefragt, ob er eine Vorstellung habe, bevor er beginne, eine Frage, die seiner Art und Weise zu arbeiten völlig fremd ist.

Die Bilder von Da Vaz entwickeln sich auf der Leinwand über viele Stufen, genau so wie sich die Evolution entwickelt hat über Millionen von Jahren, ein stetiges Zusammenspiel von Zufall und Ordnung. Seine Kunst bietet uns deshalb einen evolutionsähnlichen Vorgang in seiner ganzen Komplexität, eingefasst in eine einzigartige Bilderwelt.

Washington, D.C., März 1980
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